Yoga und Freiheit


- wie Yoga einen Beitrag zur sozialen Gestaltung leisten kann

16. März 2021

Freiheitliche Kultur

In unseren herausfordernden Zeiten wird die Yoga Praxis wegen ihrer Bedeutung für die gesundheitliche Stabilisierung häufig unter dem Begriff der Selbstfürsorge betrachtet und hervorgehoben. Eine regelmäßige Yogapraxis kann auf allen Ebenen unseres Seins für einen Ausgleich ungünstiger Verhältnisse beim Übenden sorgen, sei es bei Bewegungsmangel, psychischer Belastung durch Ängste, Sorgen oder Stress oder aber auf inhaltlicher Ebene bei Entwicklungs- und Sinnfragen. Und darüber hinaus?

Heinz Grill beschreibt als große gesellschaftliche Herausforderung im Teil 5 seines Jahresausblickes auf 2021 auf die Frage, wie „eine neue Kultur mit tragfähigem Charakter“ entstehen könnte, dass „das Sein einer friedvollen, ökologischen, ästhetischen, menschlich-moralischen und freiheitlichen Kultur durch ein sehr weitreichendes und ausdauerndes Denken erst als Idee gedacht und schließlich zu einem Ideal im Fühlen und Wollen gebracht werden muss, damit sie tatsächlich in die Welt eintreten könnte.“[1] Damit ist jeder Einzelne von uns mit seinen Bewusstseinskräften[2] angesprochen, sich nicht nur für sich, sondern auch mit Blick auf die Gemeinschaft, in der er lebt, einzusetzen .

Freiheitliche Kultur

Wovon gehen wir bei der Betrachtung eines Begriffes aus?
Von einer Gegebenheit oder einer Möglichkeit?

Sowohl der Begriff „Kultur“ als auch der der „Freiheit“ lassen sich aus beiderlei Perspektiven betrachten.

Betrachten wir Kultur als das gegebene soziale Umfeld, in dem wir uns befinden, und Freiheit als etwas, das mehr oder weniger verwirklicht ist, nehmen wir eine tendenziell mehr passive Haltung ein. Wir stehen dann in einer gewissen Abhängigkeit zu den Bedingungen um uns herum und es es fällt nicht schwer zu bemerken, dass wir damit eher in eine konsumierende Position, nämlich des kulturellen Angebotes, kommen und Freiheit auf einer recht einfachen, wenn auch wichtigen Ebene verstanden werden könnte, der physischen, nämlich beispielsweise ob wir etwas dürfen oder nicht, ob wir uns bewegen können oder nicht.

Betrachten wir Kultur jedoch nicht als etwas Gegebenes, sondern etwas zu jeder Zeit zu Realisierendes, das vom Menschen erst geschaffen werden muss, und Freiheit als eine Grundbedingung, einen wesentlichen Aspekt, wie diese Kultur aussehen soll, dann rückt der Mensch in eine aktive, gestaltende Position. Kultur kann es bei genauer Betrachtung ohne den Menschen nicht geben.
Aber wir sieht es mit der Freiheit aus, die diese Kultur näher beschreiben soll? Kann sie ohne den Menschen existieren? Oder existiert sie nur, wenn sie gegeben, also schon realisiert ist? Freiheit als nähere Umschreibung für den Begriff Kultur, verweist, von der aktiveren Perspektive her, eher auf eine Möglichkeit, die ergriffen und umgesetzt werden kann und muss, wenn sie Wirklichkeit sein soll.

Freiheit ist in diesem Zusammenhang zunächst weniger auf der physischen, sondern mehr auf einer Ebene der Idee, also dem mehr geistigen Prinzip zu suchen. Es ist dann nicht die Freiheit, etwas tun oder lassen zu können, ohne Rücksicht auf andere, die Bewegungsfreiheit allein, die ich habe und ein anderer eventuell nicht, sondern das universelle Prinzip, das also nicht für spezielle Fälle, sondern allgemein gelten soll.

Diese komplexere Auffassung von Freiheit bedarf einer bewussteren Annäherung, das heißt es nimmt den Menschen in die Mitte, der ein Bewusstsein hat und es auch einsetzen kann und damit seine Lebensrealität gestalten kann. Mit anderen Worten den Ich-begabten Menschen, der nicht von bestimmten Bedingungen abhängig ist, sondern der in der Freiheit eine Ausgangsmöglichkeit und eine Zielperspektive zugleich sieht und dies nicht im engeren Sinne auf sich bezogen, sondern als universelles Ideal, das für alle gleichermaßen gelten soll.

Ein an Idealen orientierter Mensch, wird nicht darauf warten, dass sich ihm die Bedingungen bieten, die ihm eine schnelle Freiheit oder den größtmöglichen Nutzen verschaffen, sondern er wird zu jedem Zeitpunkt nach Möglichkeiten und Ansätzen suchen, die man zur Umsetzung ergreifen kann, wird sich beteiligen aus einem inneren Anliegen heraus, das Ideal, hier das Ideal der Freiheit, eigenständig zu begreifen und zu entwickeln. So gesehen setzt er bei der Freiheit an und nicht bei der Unfreiheit, wählt in aktiver Weise einen positiven Begriff statt von den Einschränkungen, die es erst zu überwinden gilt, auszugehen. Er begreift sich, ungesehen der Umstände als freies schöpferisches Wesen, aber ebenso alle um sich herum.

Er geht nicht von der Schwierigkeit aus, sondern von der Möglichkeit ungesehen der Schwierigkeiten. Er nimmt eine aktive Haltung ein und so gesehen beginnt Freiheit bei der Haltung, die jeder Mensch nur eigenständig einnehmen kann.

Ein Weg zur Freiheit muss also dem Menschen nicht nur seinen eigenen Standpunkt zugestehen, sondern eine freiheitliche Kultur sollte alle Menschen in ihrer Ich-Begabung[3] fördern.


[1] Siehe www.heinz-grill.de, Artikel vom 1. Januar 2021.
[2] Die Bewusstseinskräfte werden in der Anthroposophie und von Heinz Grill auch als Seelenkräfte bezeichnet und sind das Denken, Fühlen und Wollen.
[3] Das Ich des Menschen beschreibt den Persönlichkeits- oder Wesenskern und Entwicklungskeim, den ein jeder in sich trägt. Im viergliedrigen Menschenbild (siehe unten) ist es das geistigste und somit freieste Glied.

 

Freiheitliche Kultur und Yoga

So haben wir uns im kollegialen Austausch gefragt, wie das Ideal einer freiheitlichen Kultur aus dem Verständnis der Yogapraxis betrachtet und gefördert werden könnte? Dabei gehe ich im Folgenden von der Yogapraxis, so wie sie von Heinz Grill entwickelt und erforscht wurde und wird, als umfassenden Übungs- oder Schulungsweg aus, der das Leben begleitet und die spirituelle seelisch-geistige Ebene mit einbezieht. Es sind damit auch die nicht sinnlich wahrnehmbaren Ebenen mit einbezogen, also die Bereiche des Bewusstseins, der individuellen Entwicklung und auch die geistige Welt der Ideen, Ideale und realen, wenngleich meist ungesehenen Kräftewirkungen. Der "Neue Yogawille" will keine neue Yogarichtung sein, sondern kann übergeordnet verstanden werden als Möglichkeit der spirituellen Betrachtung, Ausrichtung oder Schulung.

Bei der Frage nach der Freiheit ist es nämlich noch recht einfach, die Freiheit von Bindungen ans Irdische oder das Körperliche oder Abhängigkeiten zwischen Menschen und durch Dinge zu nennen. Um ein wirklich freies Individuum und somit auch die universale, für alle Menschen gültige Freiheit zu begreifen, lade ich Euch ein, etwas genauer auf das Bild des Menschen und seine Konstitution, so wie sie hier zugrunde liegen[1], zu blicken.

Am wenigsten frei erscheinen wir zunächst auf den Ebenen des Körpers und der Lebenskräfte, die unter dem Begriff des sog. Ätherleib zusammengefasst sind: Unseren Körper erleben wir in der Regel als gegeben und auch eine bestimmte Kräftekonstitution scheint auf den ersten Blick zu uns zu gehören, die wir einmal als eine Begrenzung und oder auch mit dem Begriff der Eingebundenheit beschreiben können.

Auf der mehr seelischen Bewusstseinsebene, dem sog. Astralleib, der durch die Kräfte unseres Denkens, Fühlens und Wollens gekennzeichnet ist, und auf der Persönlichkeitsebene des Ich ist die Einschätzung unserer Freiheit meist schon weniger eindeutig: hier kommt es wesentlich darauf an, aus welcher Richtung wir unsere Bewusstseinstätigkeit und unser Selbsterleben erleben und führen. Sind es mehr die Bereiche von Körper und Kräften, nach denen wir uns ausrichten, oder streben wir davon unabhängig aus einer anderen Warte nach einer Weiterentwicklung und orientieren uns dabei beispielsweise an Idealen, die erst realisiert werden wollen? Oder mit anderen Worten: Nehmen wir uns individuell eher aus dem Körperlichen und auch aus dem Gesellschaftlichen determiniert wahr oder in freierer, an Vorstellungen und Idealen orientierter Ausrichtung?

Die Bedeutung eines erweiterten Freiheitsbegriffes in Zusammenhang mit der Yogapraxis

Die Bedeutung eines erweiterten Freiheitsbegriffes in Zusammenhang mit der Yogapraxis möchte ich ein bisschen veranschaulichen:
In der Yogapraxis im Sinne des Neuen Yogawillen nimmt der Übende von Anfang an eine vom Prinzip her freiheitliche Position genau auf diesen höheren Ebenen von Bewusstsein und Ich ein. Das heißt, dass das Üben im freien Bereich der Anschauung, in unserer Vorstellungstätigkeit, die sich an klaren Ideal-Bildern orientiert, beginnt und nicht bei unseren körperlichen, mitgegebenen oder erworbenen Fähigkeiten oder der aktuellen Kräftekonstitution ansetzt. Wir werden sie beim Ausführen der Asanas (Körperübungen) sicher mit berücksichtigen, aber die gesamte Übungsweise wurde von Heinz Grill so entwickelt, dass sie im aktiv tätigen Vorstellungsleben ansetzt: Den Übungen liegt eine ordnende Bewusstseinsarbeit zugrunde, die unabhängig von leiblichen Bedingungen bei den Bewusstseins- oder auch Seelenkräften ansetzt und über das Denken und im Weiteren das Fühlen die Übung innerlich vorbereitet und schließlich über den Körper willentlich und ihrem Ideal-Bild entsprechend (oder in Annäherung) zum Ausdruck bringt. Das heißt aus dem Bereich der klaren, vorstellenden und gedanklichen Bewusstseinsaktivität, und nicht dem oftmals diffusen, subjektiven Innenleben, steuert der Übende in die körperlichen und ätherischen Ebenen hinein. Er orientiert sich an den Angaben des Lehrers oder folgt den Sinn-Bildern, die Heinz Grill zu den einzelnen Asanas erarbeitet hat[2] in eigenständiger und damit freier Weise: Er wird gerade dadurch erleben, wie er auch gegenüber seinem Körper und seiner Konstitution freier wird, wie er diese sogar aufbauen und entwickeln lernt, je besser es gelingt, sich auf dieser freien, von idealen Vorstellungen getragenen Ebene selbständig zu betätigen. Aus den Idealen, die im Bewusstsein empfindsam lebendig werden, erbauen sich neue Lebenskräfte und auch der Körper wird zugänglicher für neue Bewegungsformen und kann mit der Zeit folgen und Formen darstellen, die zunächst schwer zugänglich oder unmöglich erschienen.
Das heißt, die gewünschten und entstehenden Formen, d.h. der Ausdruck der Asana, kommen aus der ungebundenen freien Ebene der Ideen, oder man könnte auch sagen des Geistes, und finden über das Ich des Menschen und seine Bewusstseinskräfte hinein in den Körper oder die Materie.

Dies kann übertragen werden auf den Weg der Realisierung einer freiheitlichen Kultur, der eine Entwicklungsaufgabe beschreibt, die nur durch eigenständige menschliche Individuen begriffen und umgesetzt werden kann. Die Kultur entsteht erst durch den Menschen und erhält den Ausdruck der ihr zugrunde liegenden Ideen und Ideale. Und wenn diese Ideen auf der Vorstellung beruhen, dass es hinter der sichtbaren auch eine nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmbare Realität gibt, dann sehen wir in der Kulturaufgabe nicht nur das Zusammensein von Individuen, die sich mit ihren Körpern gegenüber treten und somit einen Raum einnehmen, der gewährleistet sein muss. Dann muss die kulturbildende Tätigkeit auch diese Ebenen der seelischen Bewusstheit und der geistigen Ideale, die sich immer auswirken, berücksichtigen und fördern, damit sie sich in jedem Einzelnen freiheitlich entwickeln und ausdrücken lassen.

So gesehen nimmt der Yogalehrer, wenn er sich bei seiner Arbeit im Sinne des Neuen Yogawillen an diesen körperfreieren Ebenen orientiert, eine ganz wesentliche Rolle in einem kulturschaffenden, entwicklungsfreudigen Kontext der Erwachsenenbildung ein: Über die Übungen wird ein freieres Menschenbild, das den Menschen und sein Entwicklunsgpotential ins Zentrum rückt, anschaulich vermittelt. Die Übenden lernen, sich leichter von ihren eigenen und begrenzenden Umständen etwas zu lösen und eine freiere Position zu ergreifen, die sie über ein gestärktes Selbstempfinden auch leichter jedem Anderen ermöglichen wollen werden. In diesem Sinne kann die Förderung einer freiheitlichen Kultur als eine besonders schöne Aufgabe betrachtet werden, die letztendlich in der Verantwortung eines jeden einzelnen liegt, die in der Yogaarbeit auch jedem zugesprochen wird. Und sie ist letztlich nicht von einer bestimmten Yogarichtung geprägt, sondern kann jedem Yogastil zugrunde gelegt und allgemein gefördert werden.



[1] Das diesem Text zugrunde liegende Menschenbild ist ein viergliedriges (Körper, Lebenskräfte- oder Bildekräfteleib, Astral- oder Bewusstseinsleib, Ich) im Vergleich zum dreigliedrigen (Körper, Seele, Geist)
[2] Diese Sinnbilder, entsprechen seelisch-geistigen Wahrheitszusammenhängen und können in den einzelnen Asanas eigenständig erforscht und befragt werden. Sie werden Imaginationen genannt und finden sich beispielsweise in dem Grundlagenwerk „Die Seelendimension des Yoga“, Heinz Grill, Verlag für Schöne Künste.